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Der originale Text der FAZ ist gegen Gebühr im dortigen Archiv zugänglich. Wir stellen hier eine Kopie davon zur Verfügung:


Archiv beider Richtungen

In der Schule lernt man, dass man zwei Hauptwörter nur dann nebeneinanderstellen darf, wenn man Aufmerksamkeit erregen will: Diese hat ein Buch mit dem Titel "Ornament und Versprechen" in jedem Falle verdient. Wenn René Straub und Harry Walter aktiv werden, allemal.

Mit ihrem neuesten Produkt wollen sie den Begriff des Ornaments über seine gewohnte Bedeutung als "Zierrat" hinaus denken und zur Beschreibung zeitgenössischer Orientierungsprobleme einsetzen - nicht nur innerhalb der Kunst.

Ewige Widerkehr des Gleichen

Seit 1982 ist in Stuttgart das "Archiv beider Richtungen" tätig, verantwortlich dafür sind Renè Straub und Harry Walter. Als Archiv, das sowohl in die Zukunft wirkt wie auch Vergangenes in den Blick nimmt, hat es bisher eher im Verborgenen seine Wirkung entfaltet. Daraus aufgetaucht sind Straub und Walter, als sie am 20. Dezember vergangenen Jahres im Nachtstudio des ZDF einen Lichtbildervortrag gehalten haben. Der Vortrag verband Nietzsches Modell der "ewigen Wiederkehr des Gleichen" mit Nahtoderfahrungen, der Ornamentgroteske, Modelleisenbahnen und vielem anderen mehr, alles in einer geradezu mikroskopischen Sicht, die auf die gezeigten Dias fokussiert.

Die Nahsicht ist auch dem neuen Buch eigen. Es versammelt unter anderem das Manuskript des Fernsehauftritts und gruppiert darum Beiträge über Hegels Haut, Rechts-Links-Probleme, Punkte, Staub, Ohren und Ornament. Die Wandtapete in Nietzsches Sommerhaus in Sils Maria dient dabei stets als Grundmuster der Argumentation, schnelle Assoziationen machen die Lektüre zu einem intellektuellen Vergnügen.

Ideenspeicher für Ordnungsysteme

Um es gleich vorwegzunehmen: Dieses Buch wird man immer wieder gern in die Hand nehmen. Es enthält Sätze, die funkeln ("recht betrachtet ist Staub schön"), löst stets seinen eigenen Anspruch ein, oberstes Ziel sei es, "gelassen über die Runden zu kommen", und macht aufmerksam auf die vertraut geglaubte direkte Umgebung, die dann doch immer wieder neu zu entdecken ist.

Straub und Walter haben mit dem Buch so etwas wie einen Ideenspeicher über Ordnungssysteme in der Welt vorgelegt. Zugleich tauchen immer wieder in dem durchweg aufregend illustrierten Band vermeintliche Alltagsbilder auf, denen eine ausführliche Betrachtung gewidmet wird. Dabei zeigt sich beispielsweise nach längerem Studium des Blicks in eine Druckwerkstatt, daß das Foto so tot und ausgestopft wirkt, weil es sich bei den Beschäftigten durchweg um Blinde handelt: "Die Welt der Blinden versagt sich dem fotografischen Arrangement. Der akustische Simultanraum, in dem sie sich befinden, verlangt, um in ihm kommunizieren zu können, keine gegenseitige Ausrichtung der Körper, wie das im visuell-perspektivischen Raum der Fall ist. Die Blinden sitzen einfach da, jeder im Schatten des anderen, sie kümmern sich nicht um die Seherwartungen ihrer Betrachter. Sie leben in einer Höhle, und jeder Blick in eine Höhle ist befremdlich".

Um es kurz zu machen, das Buch ist ein Ereignis. Und es darf kaum als ein Wunder gelten, wenn in der Internetdomain "ideenfreiheit.de" die spannendsten Projekte von Harry Walter (und übrigens auch Wolfgang Ullrich) angeregt werden. Man sollte die Projekte des "Archivs beider Richtungen" aufmerksam verfolgen, dann wird man sicher irgendwann etwas über die "Geschichte der Viertelstunde" oder auch die Brühwürfel von Maggi lesen.


Alexander Markschies, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14. Oktober 2001, Feuilleton

Frankfurter Allgemeine Zeitung
Neue Züricher Zeitung
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