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Über das spiritistische Tischerücken: " ...Dass gerade der Tisch zum bevorzugten Objekt magischer Experimente werden konnte, nimmt nicht wunder. Besteht doch die zivilisatorische Aufgabe des Tisches darin, bestimmte häusliche Dinge vom gleichfalls ebenen Boden, dem Ort des Schmutzes, fernzuhalten und in einen gleichsam mittleren Schwebezustand zu überführen, dessen imaginäre Ebene durch die Tischplatte markiert wird ... In einer total durchmöblierten Wel, wie der unsrigen hat eben auch die Magie ihren festen Ort, ihr spezielles Mobiliar, und erscheint in erster Linie als Problem der adäquaten Präsentation von Reliquien ..." (1)

ABR STUTTGART (René Straub und Harry Walter) steht für eine ästhetische Strategie im Umgang mit Bildern, mit Kunst. Sie bewegt sich zwischen der Alltäglichkeit der verfügbaren Bilder und Gegenstände und dem alltäglich medialen Verbrauch einerseits und der Magie des Arrangements, des die Sinn- und Bedeutungsfrage provozierenden neuen Sortierens zu Zusammenhängen auf Zeit andererseits. Der immer wieder andere Zugriff führt aus der scheinbaren Gleichgültigkeit der Einzelteile des Archivs zu einer tiefergreifenden Metaphysik der Versammlung. Diese Strategie ist spielerisch und anschaulich und gleichzeitig reflektierend und spekulativ, weil sie im Einzelnen, im Arrangement, die Perspektive des Ganzen einfordert: "Das Bild der Welt in der Bilderwelt" - aber offener und prinzipieller als John Berger zum Sehen anleitet. (2)

Eine Methode der ästhetischen Strategie wurde 1983 in den drei Teilen der Ausstellung "Décor de la vie" im Württembergischen Kunstverein deutlich. Ein Raum beinhaltete das >Depot<. Dieses Archiv existiert als indifferente Ansammlung von Dingen und Bildern und als Repertoire. Im >Kabinett< waren Erinnerungsbilder, Photos früherer, ephemerer Arrangements zu sehen. Schließlich die >Manege<: der Ort des Dressurakts, der Inszenierung, der Einrichtung. Dem aufmerksamen Betrachter wird mit dieser Bewegung in zwei Richtungen (3) deutlich: Ein Bild, das an einer Stelle verschwindet und in einem anderen Zusammenhang wieder auftaucht, ist ein anderes Bild. Der Grundgedanke dieser Methode ist die Hypothese, dass nicht die Erfindung originärer Werke, sondern die immer wieder andere Orientierung, das Neu-Arrangieren der Bilder aus dem mit- und weitergeführten Repertoire das eigentliche Bewegungsmoment der Kunst bedeutet. Darin ist eine grundlegende Skepsis enthalten gegenüber dem Anspruch des klassischen Werkgedankens in der Kunst und der routinierten Fortführung ästhetischer Prinzipien.

Deshalb ist die Reihe der Ausstellungen, Bücher und Veranstaltungen von ABR STUTTGART auch nicht als kontinuierliche Entwicklung, sondern eher in der Folge plausibler Brüche zu verstehen, in denen sie wie vermeintliche Deko-Lieferanten von Mobiliar, Tapeten, Bildern, Plakaten die Zusammenhänge immer wieder umstülpen und neue, unvermutete Bezugsfelder eröffnen. Wesentliche Themen des ästhetischen Umgangs nicht nur mit subjektiven Assoziationen und experimentellen Denkspekulationen in Bildern, sondern auch mit scheinbar ganz trivialen Phänomenen zu verbinden, das ist ein Spannungsmoment der Ausstellungen, Plakate, Texte ... Darin äußert sich auch Lebensnähe. Es handelt sich um eine ästhetische Praxis mit ständiger Durchdringung von unmittelbarer Anschaulichkeit und Theorienbedarf, die an die Stelle der Produktion von Werken im klassischen Stil tritt.

Ebenso wie die Inszenierungen von Bildern und Objekten gehören auch die Bücher zur künstlerischen Arbeit von ABR STUTTGART. Zwei haben eine besondere programmatische Bedeutung. "Kosmos und Einrichtung" (1983) schildert entlang eines mehrfach aufgebrochenen narrativen Fadens mit Bildassoziationen eine Folge von vorgestellten Räumen, in denen die unterschiedlichsten architektonischen Situationen sowie Ding- und Einrichtungszusammenhänge die Zeit, den Krieg überdauert haben - ein Bunker als letztes Museum. Die fiktive und mit Bildzitaten als Wirklichkeitsbezügen aufgeladene Entdeckung der am Endpunkt ihrer Archivierung angelangten Geschichte der Einrichtung in Bildern und Mobiliar ist der Gegenpol zur erklärten Absicht des Nachdenkens und der künstlerischen Praxis. "Räume zu schaffen, die uneingeschränkt Werk des Künstlers sind und zugleich die natürliche Umgebung des Benutzers und Bewohners." (4) Jeder einzelne Raum und das Ganze ist eine vielschichtige Parabel für die >Hardware<, die "graue Version" des Speichers, der über den Erinnerungen und dem geronnenen Pathos allerdings auch das Phantasiepotential einer Öffnung der Zusammenhänge dieser archäologischen Entdeckung anzeigt, mal im Bildzitat, mal in dem fiktiven Gedankenspiel der Texte.

Das Buch "Musterbrüter" (1988) ist äußerlich schon gestaltet wie eine Anleitung, die sich der Techniker in die Tasche stecken kann. Diese "bunte Version" beinhaltet wiederum Bilder aus dem Repertoire und verdichtete Texte, um die sich ganze Themenfelder entfalten lassen, ausgebreitete Bildnetze wie Muster und komprimierte, vielschichtige Parabeln. Auch hier spielen die Kabinette des Archivs in Form bereits geschaffener Zusammenhänge ebenso eine Rolle wie die Umschichtung des Repertoires in andere Kontexte, und die Spannung zwischen wortspielhaften, scheinbar plakativen und sinnbeladenen Bildern, vermeintlich einfachen Erzählungen und kryptisch verdichteten Parabeln führt den Leser und Betrachter in immer tiefere Verstrickungen, immer komplexere Muster.

Die ornamentale Oberflächenstruktur und die spekulative Bedeutung des Musters, vom gerahmten Musterbild zur Tapete, zur dekorativen Überblendung der ganzen Einrichtung eines Hotelzimmers bis zur "Göppinger Wand" ist ebenfalls ein Teilaspekt mit Blick aufs Ganze. Die Tapete ist symbolischer Inhalt und philosophisch bildhafter Ausdruck des spekulativen Moments in der Strategie von ABR STUTTGART. Zwischen Kosmos und Einrichtung ist sie Verkörperung eines bildsprachlichen Tricks und Realität: Das einzelne Motiv wird multipliziert und breitet sich aus bis in die Totale und findet sich zugleich als banales Dekor von Einrichtungen alltäglichster Art.

Auch im Umgang mit Kunst wird die Tapete zur realen Metapher. In der Ausstellung mit dem Titel "Vorübergehende Sammlung - Göppinger Wand" (1994) breitet sich auf einer ABR-Tapete und über ihre Horizontlinie hinausragend gleichmäßig eine prinzipiell unendliche Ansammlung von Bildern aus, immer vier in einem Rahmen. Jedes einzelne Bild ist autonom, als Reproduktion in immer gleicher Größe aus seinem ursprünglichen Bedeutungskontext herausgelöst und in inhaltlich beliebig neu konstruierbaren und offenen Zusammenhängen angeordnet. Die Ausbreitung erfolgt gleichmäßig, ist ohne Hierarchie möglich aufgrund der keine Zuordnung bevorzugenden und ad infinitum erweiterbaren Zusammenstellung des Blocks in vier Bildern. Die Atomisierung und die permanente Vervielfältigung der Bilderwelt/des Bildes der Welt hat ihre entsprechende Gegenbewegung: Alles wird letztendlich zum Ornament. Die Menge der Kunst, der Bilder führt zur gemusterten Folie. Je autonomer die Bilder sich im einzelnen isolieren, um so mehr wird die Kunst, als Ganzes gesehen, zum Muster, zum Dekor, zum Ornament. (5) "Möglich, dass daraus dann irgendwann etwas Tapetenähnliches entstünde, eine gemusterte Fläche, die fast nichts mehr mit dem Inhalt und der Bedeutung der einzelnen Bilder zu tun hätte. Möglich aber auch, dass bei der Betrachtung dieses Quartetts der Sinnzwang doch über die Idee des Dekors triumphieren würde und wir darüber zu staunen hätten, wie selbst das disparateste Material noch zu einer mustergültigen Anordnung findet. In der Ausstellung ... bleibt es offen, ob am Ende die separierende weiße Ausstellungswand oder das integrierende, wenn nicht sogar alles verschlingende Tapetenmuster die Oberhand über die Bilder gewinnt ... - dieser Zustand der Indifferenz ist die Voraussetzung für das, was wir Sammlung nennen." (6)

Das Projekt "Zwischen Eis und Süden" für die Ausstellung >Schnittstellen< des Heidelberger Kunstvereins umfasst eine Tapete-Bilder-Wand und eine Buchpublikation. Darin spiegelt sich ein dritte Form des Umgangs mit Kunst, die von den Künstlern in Ermangelung eines besseren Begriffs als "Lehrveranstaltung" bezeichnet wird, und die wie die Inszenierung der Bilder und das Lesen/Schreiben integraler Bestandteil der künstlerischen Praxis ist: Philosophische Spaziergänge mit Freunden und Gleichgesinnten zu Orten, Bildern und ästhetischem Denken. 1992 lud ABR STUTTGART zu einer solchen Veranstaltung nach Sils Maria im Engadin ein. Ein zentraler Ort des Interesses war das Zimmer Friedrich Nietzsches, in dem er während der Sommer seiner letzten aktiven Jahre lebte und zentrale philosophische Gedanken niederschrieb. Dort ist in der später im Regionalstil vertäfelten Wand die wie ein Bild freigelegte Tapete zu entdecken, die Nietzsche einst für seine "Höhle" ausgesucht hatte. Und es entsteht die im Sinne von ABR STUTTGART ganz andere, inspirierende Spekulation: Nicht allein als Produkt reinen philosophischen Denkens, sondern angesichts dieses Tapetenornamentes - "des Urmotivs der Musterausbreitung, frei von kompositorischer Spannung, endlos in sich selbst" (7) - hätte Nietzsches "Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen" auch ihre Begründung finden können, aus dem alltäglichen, scheinbar belanglosen Leben, als Oberfläche und Tiefe philosophischer Weltbedeutung in einem - "Ornament als Denkmuster".

Ein anderer Ort dieses Unternehmens war in St. Moritz das Hotel Belvédère. Von seinem damaligen Besitzer Bavier war Giovanni Segantini, nachdem sein Panoramaprojekt für die 1899 in Paris stattfindende Weltausstellung gescheitert war, angeregt worden, ein Panorama über St. Moritz zu malen. Daraus wurde ein Triptychon, auf einem Hundertstel der Fläche seiner ursprünglichen Vision. Doch auch diese Fassung erwies sich als nicht-integrierbar in eine Hotelkultur, die in ihrer luxuriösen Einrichtung dazu beitrug, innen und außen "die bisweilen bizarre Schönheit der Hochalpen in ihrer Lebensferne salonfähig zu machen." (8) Kulturhistorisch gesehen könnte diese Geschichte eine Randnotiz bleiben und einmal mehr die Unvereinbarkeit einer kosmischen Vision der Natur in der Kunst mit deren touristischer Kolonialisierung als konsumierbarer, pittoresker Landschaft belegen. Aber St. Moritz und Sils Maria liegen nur wenige Kilometer voneinander entfernt.

... Wenn die beiden sich begegnet wären - der Philosoph, der Schöpfer des Zarathustra, und der Alpenmaler mit seiner Idee eines gigantischen Engadin-Panoramas für die Weltausstellung? "Hätte, um diese Fiktion weiterzuspinnen, das 19. Jahrhundert nicht auch damit enden können, dass Nietzsche, als Zarathustra verkleidet, vom zentralen Hügel des Engadin-Panoramas aus der Weltöffentlichkeit die "Lehre von der ewigen Wiederkehr des Gleichen" verkündet, so dass wir heute ins Engadin reisen müssten, um etwas von den Ursprüngen jener Überanstrengung zu erfahren, die mit dem Projekt der Moderne untrennbar verbunden ist?"

Nicht nur als theoretische Hypothese, sondern als anschauliches Muster von Assoziationen ist diese Veranstaltung künstlerische Praxis. Sie führt die Beteiligten zu den Bildern und dem Denken, zu den Visionen dieser Protagonisten in Philosophie und Kunst. Sie verbindet die Oberfläche und Leichtigkeit des Spaziergangs und Anschauens mit der Imagination, und darin gewinnt die ästhetische Strategie wie ein Kunstwerk ihre Vielschichtigkeit und Intensität, weil sie den Zusammenhang, das Muster ihrer Bildsprache nicht verliert. (10) Die Ausstellung und das Buch im Heidelberger Kunstverein gehören dazu. Alles zusammengenommen ist die künstlerische Praxis, die ästhetische Strategie, und sie führt mit ihrer Methode, Muster von Bildern (visuell oder in Texten) auszubreiten, in die wesentliche und doch nie real einlösbare Spekulation der Totalen, der Idee des Panoramas - "als Verbindungselement zwischen der Sehnsucht nach der Präsentation des Ganzen und der (im >Zarathustra< skizzierten) Sehnsucht der Philosophie, eben dieses Ganze nicht etwa erklären - sondern: einklagen zu können." (11)

ABR STUTTGART verkörpert eine Haltung, eine ästhetische Strategie und künstlerische Arbeit am Rande der Kunstproduktion. Wie die durch Geisterhand bewegte Tischplatte halten René Straub und Harry Walter den Umgang mit Kunst, mit Bildern in der Schwebe, zwischen Kosmos und Einrichtung, zwischen dem Werkgedanken der Kunst und der natürlichen Umgebung des Benutzers, und wenn der Bewohner ein Philosoph ist. Es ist ein Sehen, Denken, Lesen/Schreiben und Spazierengehen zwischen Bildern und Kunst und trifft genau dort den Nerv ihrer Existenz und Bedeutung. Die "Ironie der Indifferenz" (Marcel Duchamp), der Wechsel von der Aura des Einzelnen zum Ausstellungswert der Dinge, Bilder, Spekulationen in immer neu sich ausbreitenden Netzwerken, fordert die Sinn- und Bedeutungsfrage ebenfalls immer neu zu stellen. Der konsequenten Inkonsequenz ist dabei methodisch kreative Qualität beizumessen, das Besondere in der Ausbreitung der Muster sich behaupten zu lassen. Darin steckt das Denken und die Phantasie im Umgang mit Bildern, mit Kunst, und der Kunst selbst.

Werner Meyer in Katalog: Schnittstellen. 125 Jahre Heidelberger Kunstverein, Heidelberger Kunstverein, 1994

Anmerkungen:

(1) ABR STUTTGART: Kosmos und Einrichtung. Stuttgart 1983, Kap. X

(2) Vergl. John Berger: Sehen. Das Bild der Welt in der Bilderwelt, Reinbek bei Hamburg 1974

(3) ABR ist ursprünglich eine Abkürzung für "Archiv beider Richtungen" - dies könnte eine mögliche Deutung in der künstlerischen Praxis sein.

(4) ABR STUTTGART: Kosmos und Einrichtung, Stuttgart 1983, Kap.: "Einstieg. Eine Frage der Energie".

(5) vergl. Dazu auch Th. W. Adorno: Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt/M 1967, bes. S.123

(6) Harry Walter: Die Festlichkeit der Wände. In: Städtische Galerie Göppingen: Vorübergehende Sammlung (Göppinger Wand), Göppingen 1994

(7) vergl.: ABR STUTTGART: Zwischen Eis und Süden (hrsg. V. Heidelberger Kunstverein), Vexer Verlag St. Gallen 1994. Kap. "Ornament als Denkmuster"

(8) Einladung zur Veranstaltung "Zwischen Eis und Süden", 1992

(9) Ebenda

(10) Vergl. Italo Calvino: Sechs Vorschläge für das nächste Jahrtausend, München, Wien 1991

(11) Thomas Wulffen: ABR STUTTGART. Peripherie und Zentrum, Zyma 10 (1992) Nr.4, S.18

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